Schläfer



Am Anfang saßen sie morgens noch über Kaffee mit Milch in der Küche. Dann tranken sie ihn schwarz mit einem kleinen Esslöffel Rohrzucker. Eine Besänftigung in den Mittagsstunden war das Öffnen der Fenster in der Wohnung gegenüber, wo die Putzfrau die Dinge täglich umwälzte, in Ordnung brachte und auslüftete.  Sie standen da, mit einer  Menthol-Zigarette am Fenster, Bademantel neben Bademantel. Alles lag im Schatten, die Portiersfrau Lorena spritzte den Hof mit einem Wasserschlauch, die Dunstabzugshaube einer Wohnung im Erdgeschoss war zu hören und es war ihnen nicht klar, was gerade auf der Straße geschah. Sie blickten sich an, fuhren sich durchs Haar, eine Hand rechts, eine Hand links, Schlafsand in den Augen und ratlose, schöne junge Gesichter. Sie erzählten sich die Träume der letzten Nacht, halb Ernst, halb lachend, zwischendurch ein Telefonanruf eines Freundes, Einladungen, die abgelehnt wurden- schon seit Tagen. Bald würden sie nicht mehr ans Telefon gehen, sich die Einkäufe vor die Haustür liefern lassen, „ich komme schon“ rufen, einen Geldschein durch den Türspalt reichen, sich auf die Couch werfen und kauernd das Gesicht des anderen betrachten, eine Wimper mit einer kalten Fingerspitze entfernen, zum erkerhaften Fenster im Wohnzimmer aufblicken, gemeinsam die Taubenfeder am Fenstergitter entdecken, die halb klebte, halb vom Wind abgetrennt wurde. Die Tageszeiten verloren ihre Bedeutung, draußen nur Schatten wechselnder Blaus, sie waren im Warten, aus dem ein Nicht-Warten wurde.  Schleichend, tapsend, tänzelnd schwammen sie im Aquarium der Wohnung, die nicht viel von ihnen erwartete außer bewohnt zu werden.
Sie hielt zwei Münzen in der Hand, aus der Zeit, die sie als Europäerin gelebt hatte. Ein Eichelblatt aus Kupfer in der Einen, das in Gold eingekerbte Brandenburger Tor in der anderen. Europa war Kleinstadt und Kirchenglocke, war Frösteln und keine Antworten, war Wien, wo sie alleine in den Kinos der Stadt gesessen war und über die roten Sitze aus kurz geschorenem Samt ihre Hände hatte wandern lassen. Europa war, wo sie einsam gewesen war.  Sie lebte nun in Symbiose mit dem Fremden, das nicht mehr in ihr sondern im Anderen lag. Zunächst war Ernsthaftigkeit Äußerlichkeiten gewichen, die mehr als das waren. Man hatte sie auf ihren Körper, ihre physis hingewiesen. Ihre Augen, Brüste, Beine und Zunge waren auf einer Höhe, standen in keiner Stufenabfolge mehr zueinander sondern wirkten gleichberechtigt zusammen und das Lärmende in ihr, das Lachen, Weinen und still sein gestattete man ihr wie man einem jeden Menschen das Verweilen über Stunden auf einer Parkbank nicht verbieten kann.
Sie gab ihm die Münzen, die warm geworden waren in ihren Händen. Er legte sie zurück auf den Tisch und hielt ihre Hand, während er mit der anderen die verwelkten Blätter der Zimmerpalme abknipste.  In den Wohnungen über ihnen, neben ihnen, unter ihnen gingen die Lichter an.  Haustüren wurden aufgeschlossen, Telefonate geführt, Einkaufstüten auf den Tisch plumpsen gelassen.  Sie lauschten noch eine Weile, tranken noch eine Tasse schwarzen Instant-Kaffee, bestrichen sich ein paar Kräcker mit beißend süßer Erdbeermarmelade und krochen dann ins Bett.  „Agonie“, sagte sie während sie hinweg dämmerten. „Ich weiß“, sagte er und sie sanken in einen Schlaf, als ob sie kein Morgen kannten.  Der Tag brach an, nach 8 Stunden, und sie konnte sich nicht bewegen, weil sie nur dunkel wahrnahm. Wahrnahm, dass ihr Mund leicht geöffnet war, dass sie absurd ausschauen musste, aber der Sarg des Schlafes ließ sie in dieser Position verharren. Sie spürte seine kühle Hand auf ihrem Hals, wie die Hand sie abtastete, dann zum Herz hinunterglitt, suchend nach ihrem Puls, der für ihn zu stehen schien.  Ihre Zähne, hasenhaft über ihre Unterlippe gestülpt ließen sich nicht bewegen. Als sie erwachte, war alles leise, wie schon seit Tagen, obwohl sie zu zweit waren.  Sie fand ihn im Badezimmer. Er strich sich die schulterlangen Haare zurück, immer wieder fuhr er sich durchs Haar, zurrte es immer fester, der Blick gesenkt im Spiegel und band das Haar zu einem perfekten Pferdeschwanz, der seine Stirn kahl und ernst machte. Erst jetzt bemerkt er, wie sie in der Türe stand, hilflos, schlaflos nun, im verwaschenen Pyjama, Speichelränder am Mund und eine vorwurfsvolle Blässe, die ihn an seine kalten nackten Füße auf dem  Badeboden erinnerten. Er machte einen Schritt an ihr vorbei, rettete sich auf den Teppichboden herüber und sie wusste nicht, was er tat. „Du dachtest, ich sei tot.“, sagte sie, sein Rücken vor ihr. Er reagierte darauf nicht. „Ich vermisse die medialunas, die frischen frühmorgens verkauften.“, sagte er und drehte sich nun um. Es war das erste Mal seit Tagen, dass einer von ihnen etwas vermisste. Aber es war nicht sie. Sie verlangte nach nichts da Draußen, vermisste nichts da Draußen, hatte nichts vor da Draußen. Einer der Zweisamen verspürt Einsamkeit, dachte sie und ihre Stirn legte sich in Sorgenfalten. Er zwickte sie liebevoll in das Grübchen, das sich am rechten Mundwinkel bildete, wenn sie lächelte, als ob er dieses Lächeln sehnlichst herbeiwünschte. Sie verwehrte es ihm und ging zurück in das tiefe Bett.  Er ging ihr nach, blieb aber im Türrahmen stehen und verschränkte die Arme vorwurfsvoll. „Agonie“, sagte sie wieder, aber dieses Mal antwortete er nicht und er entfernte sich so leise, wie er schon am Morgen ins Bad geschlichen war. Nur noch ihr Kopf ragte unter den Daunen heraus, aufgetürmte, zusammengepferchte Vogelfedern, die ihre Körpertemperatur aufrecht erhielten, während er an den Geruch der medialunas und das Gelächter der Büroleute zur Mittagszeit dachte, wie sie auf den Straßen schlenderten, das Jackett über der Schulter, befreite Gesichter, menschliche Menschen. Er öffnete das Fenster, schloss seine Augen und streckte die Hand ins Freie. Draußen war abgekühlte Badewassertemperatur, die Luft schwer, seine Hand leicht darin. Lorena war unten im Hof nicht zu sehen. Vielleicht könnte er sich auf die Straße schleichen und niemand würde ihn dabei sehen. Es wäre sozusagen nie passiert. Er trug Shorts, Sandalen und einen Pullover in Bordeaux-Rot als er das Haus verließ. Auch wenn die Sonne hinter Smog und Dunst schwelte, spürte er wie sie grell auf seiner Netzhaut entlang scannte. Er hatte einen schalen Geschmack im Mund und jeder weitere Schritt vom Haus weg war Agonie. Er wusste nicht, ob sie in größerer Gefahr war oder er. Ob sie mehr kämpfte oder er. Ob sie den Kampf aufgegeben hatte oder er ihn noch einmal aufgenommen hatte. Er wünschte sich ein hohes Alter herbei. Man hätte bemerkt, wie verloren er auf der Straße torkelte, wie er sinn-und orientierungslos schildkrötenhaft seinen Blick nach oben und dann wieder langsam nach unten wandern ließ. Man hätte ihn gefragt, wo er hingehöre. Er hätte auf das Haus gezeigt und man hätte ihn bei der Hand genommen, zurückgeführt.  Er lief bis zur Bäckerei, trat hinein, sah die medialunas, wie sie da in geflochtenen Körben übereinander geschichtet aneinanderklebten und dufteten. Er griff in seine Hosentasche und bemerkte, dass er vergessen hatte, Geld mitzunehmen. Seine Unternehmung war gescheitert, bevor sie begonnen hatte. Unbeachtet von der Verkäuferin, stieß er die Tür wieder auf, es klingelte kurz ein Glöckchen, das ihn hämisch hinausbeförderte.  Er blickte an sich hinunter. Storchenhafte Beine und dünne krumme Zehen, als sei nur noch das Skelett übrig geblieben. Jeder Schritt war Aufwand, Schuld, Selbstmitleid und Vorahnung. Er lief zum congreso/Parlament an der alten Mühle vorbei, die von Tag zu Tag als Mahnmal der Luftverpestung schwärzer wurde und ließ sich auf dem Kinderspielplatz des Plaza auf einer Bank nieder. Buenos Aires. Kinder wühlten im Großstadtsand und es war ihm, als sänken seine unbewegten aufgestellten Füße  dem Untergrund entgegen, bis sie auf den Köpfen der Metro-Fahrer angelangt wären. Würde sie beschließen, das Bett, das Zimmer, die Wohnung, das Haus zu verlassen, um ihn zu suchen, sich in Orientierungslosigkeit anstatt in den Laken zu wälzen? Würde sie Angst vor den Tränen haben, die ihr Augen, Gesicht und Hals befeuchten würden so wie glibbrige Fische Schleim auf einem Schiffsdeck hinterlassen, bevor sie sterben? Vielleicht beklagte sie gerade in diesem Moment ihr Spiegelbild, vielleicht strich sie sich liebevoll über ihre rechte Brust und legte nun da er nur geradeaus starrte ihren Kopf schief, um die Perspektive zu wechseln. Er hatte sein Versprechen gebrochen und damit das Vakuum der Wohnung aus Möbeln, Schweigen, Lächeln, Luft und kleiner mundgerechter Brote wie die Raupe den Kokon verlassen. Er tastete seine Schultern ab und spürte Knorpel, die keine Flügelfortsätze waren.
Die langsame Uhr des Schweigens tickte in ihnen hörbarer als ihre Herzschläge und sumpfig waren ihre Bewegungen- der eine draußen im Drinnen des Kinderspielplatzes und die andere drinnen im Draußen des freien Schlafs.
Die Taborstraße war sie nachts entlanggewandert, der Lusthimmel in der Apotheke der barmherzigen Brüder hatte im gedimmten Licht hinter der Scheibe verschwommene Engel zu ihr auf den Gehweg geworfen und die Schaufenster der Geschäfte leuchteten ihr den Weg bis vor die Haustür, hinter der der Schlaf ihr entgegen lächelte.
In die Schläfen eingehämmert das Schlaflied der  Mutter, das im Kreis-Laufen aus der Wohnung darüber, 10 cm Boden zwischen ihr und dem Darüber.
Auf dem Nachttisch Zuckerkörner in den Spalten des Buches, aus dem er ihr vorgelesen hatte- bemüht, sie in den Schlaf zu lesen. Sie puhlte eines der Körner aus der Buchmitte und die Süße lag ihr auf der Zunge als sie erneut in einen Schlaf glitt, der mehr Dämmern war. Hinter ihren Augen zogen wie bei einer Zugfahrt Felder vorbei, die bebaut, aber unbegangen waren. Im Winter hatte sie das immer gesehen. Felder ohne Schneespuren, nur der Wind, der Schneisen legte.
Er dachte, sonnenbeschienen, an ihre weiche, milchige Haut, an ihre Füße, deren Hornhaut immer mehr verschwand, da diese Füße sich auf Teppichboden und glatte kalte Fließen beschränkten. Wäre sie ihm hier jetzt auf der Straße erschienen, er hätte sie für einen Engel, eine wolkenhafte Erscheinung in der Stadt gehalten. Ein Kind fiel in den Sand und schrie. Es war ihm unbegreiflich, wie man einen so unverschonten Kontakt mit Boden und Dreck haben konnte wie dieses Kind, wie man so in die Welt hinausschreien konnte, ohne die Bedeutung des Echos zu kennen.
Er kehrte erst Tage später zurück. Sein Gesicht brannte von Smog, Straßenstaub und der Sonne, die ihn auf seinem suchenden Lauf durch Stadt, Menschenmassen und über gräulich trockene, von Kötern eroberte Plätze begleitet hatte als wolle sie ihn an den Schmerz und das Glühen erinnern, zu dem er gehörte, zu dem er zurückkehren musste, obwohl es seinen Körper und Kopf schmelzen ließ bis er nur noch ein Fleck von herunter getropftem Softeis vor den Füßen eines schleckenden Kindes war.
Die Tür zum Haupteingang stand offen. Sein leerer Magen rebellierte, als er das scharfe Chlor roch, mit dem Lorena die Steintreppen gewischt hatte. Als er in den sechseckigen Hof trat und nach oben in den sechseckigen Himmel blickte, vermied er es, in die rechte Ecke zu blicken, wo sie in der Wohnung war oder nicht war. Er nahm die Treppen und nicht den Aufzug bis zur Wohnung, um die Anstrengung in seinen Beinen und nicht in seinem Herz zu spüren, dessen ungleichmäßige Schläge und zu Weilen gefährliche Hüpfer er durch seine Schritte auszutricksen versuchte. Dann stand er plötzlich vor seiner eigenen Tür, eine Tür, die Eingang und Ausgang zu ihrer Welt, nicht mehr seiner war. Der Bordeaux-rote Pulli hing nun schlaff an seinen schmalen Schultern herunter, dunkle getrocknete Schweißflecken hatten sich wie zwei schwarze böse Seen unter seinen Armen ausgebreitet und der Pferdeschwanz stand steif von seinem Hinterkopf ab, Talg auf seinem Kopf wie billige Pomade. Der Gedanke an das Geräusch seines Schlüssels im Schloss war grauenhaft, denn er hörte dieses Geräusch aus den Ohren desjenigen, der in der Wohnung ist und vielleicht überhaupt nichts mehr hören kann.
Er klingelte, klingelte im Sturm wie ein kleines verzweifeltes Kind, das gerade nochmal alleine nach Hause gefunden hat, nachdem es die Mutter wutschäumend auf dem Spielplatz zurückgelassen hat, vorauslaufend, bis die kleinen Kinderbeine nicht mehr hinterher kommen. Aber es regte sich nichts, keine barfußenen Schritte auf Fließen, die früher Schuhe mit Absatz und ein freudiges Lachen gewesen waren. Schlief sie? Duschte sie sich? War sie ausgegangen? Hatte sie das Telefon wieder eingesteckt? Hatte sie Angst, ein Fremder würde klingeln? Ein Nachbar, der sie um Zucker bitten würde? Er hatte keine Antworten und er wusste die Antwort lag im Umdrehen des Schlüssels in Uhrzeigersinn. Dreckige knochige Vagabundenfinger ließen leise wie ein Einbrecher am hellichten Tage das Schloss knacken, voll Angst vor der Wohnung eines Fremden, voll Neugierde und Erleichterung, dass der erste Schritt getan war, dass das Fremde bald ein gezwungenermaßen geteiltes Universum sein würde. Die Wohnung roch nach Luft, nach geöffnetem Fenster und ausgesperrter Stadt. Er hinterließ dunkle Fußabdrücke und er stellte sich vor, wie er sie wegwischte zu einer Musik, die sie lächelnd auflegte während sie sagte: „Ich bin dann nochmal schnell bei den Nachbarn.“
Er stieg die Wendeltreppe zum Schlafzimmer hoch und vielleicht wäre es ihm mit seinen halbstarken Armen leichter gefallen, einen Schrank über die Windungen der Treppe zu befördern als sie einfach nur hochzugehen. Sein Herz hatte jetzt die Schritte besiegt. Sie lag nicht da. Das Bett war gemacht. Jetzt konnte er nur noch rufen, gepresst wie in einem Traum, wo der Träumende nur Krächzen herausbringt, obwohl er seine ganze Energie ins Schreien verwenden möchte. Erschöpft legte er sich auf das Bett, über dem ein Quilt lag, den man ihr zur Geburt geschenkt hatte. Keine Narben auf den einzelnen Quadraten, nur verblasste Blümchen, viele Lilas die verwaschen waren wie ihr Gesicht, als er sie das letzte Mal gesehen hatte, im Bad- unschuldig und müde. Auf der Rückseite des Quilt klaffte ein großes Brandloch. Sie hatte ihm die Geschichte viele Male erzählt. Den Quilt hatte die Mutter einmal über ihre Nachtlampe gehängt, um die kleine Tochter vor der Dunkelheit des Zimmers zu schützen. Die Mutter hatte später vor dem Zubettgehen nochmal nach der Kleinen geschaut und entsetzt Verbranntes gerochen. Alles war nochmal gut gegangen. Nur ein Loch auf der Rückseite eines Quilts, der ein ganzes Leben lang halten sollte. Er machte sich nicht die Mühe, in den anderen Zimmer nach ihr zu suchen, denn er wusste, dass die Stille in der Wohnung nur auf das Schlafzimmer und auf keinen anderen Aufenthaltsraum hindeuten konnte. Sie musste die Wohnung verlassen haben.
Sie war noch etwas wacklig auf den Beinen, aber ihr gefiel, wie sich das helle Sommerkleid im Frühabendwind aufplusterte und mit ihren warmen Oberschenkeln spielte. Sie hatte diesen Sommer keine Sonne getankt, aber sie fühlte sich nicht blass. Eher bedankte sie sich bei ihren weißen Armen für ihre Schonung und Verschlafenheit. Als er die Wohnung verlassen hatte, um vor drei Tagen medialunas zu kaufen, ohne je zurückzukehren, hatte sie sich jeden Tag ausgiebig geduscht und nach kleinen Knoten in ihren Haaren gesucht, um sie dann sorgfältig zu entfernen. Sie fühlte  sich so sauber, dass ihr Mund und Magen nach nichts verlangten, was ihren Körper auf irgendeine Art verunreinigt hätte. Aber jetzt spürte sie den wunderbaren Impuls, im Dämmerlicht menschliche Grundbedürfnisse befriedigen zu wollen. Durst und Hunger begleiteten ihre leichtfüßigen Schritte durch die Straßen, auf denen Feierabendgespräche schwirrten. Städter standen hinter den Scheiben von Continental Pizza und bestellten sich Stück für Stück Empanadas, medialunas, Schnäpse und Milchcafés. Sie sah niemanden wie sich selbst. Keine señoritas, die im Sommerkleid alles durcheinander bestellten, keine señoritas, die ohne Begleitung monedas aus ihren Handtaschen kramten. So wagte sie nicht einzutreten und von Draußen oder Drinnen als jene señorita wahrgenommen zu werden. Anstatt einzutauchen, tauchte sie unter. Sie lief und lief, bis sie auf die calle Florida gelangte, wo sie sich darauf konzentrieren konnte, niemandem auf die Schuhe zu treten. Die Cafés waren entweder zu voll oder zu leise, zu kalt oder zu stickig, bis ihr nichts anderes übrig blieb, als in einer Bäckerei einen Kaffee und zwei medialunas zum Mitnehmen zu bestellen und mit abgestreiften Sandalen auf dem Platz vor dem Gericht zu sitzen und den Prachtkarosserien zuzuschauen, die aus irgendwelchen Sicherheitsschranken und videoüberwachte Tiefgaragen hervor rollten. Als ein Stück Zuckerkruste der medialunas an ihrer Oberlippe kleben blieb, als Teigfetzen schneller vom braunen Kaffee durchtränkt waren als ihre Augen den wirbelnden Blättern unter ihren Füßen folgen konnten, dachte sie an das, was er gesagt hatte: „Ich vermisse die medialunas, die frühmorgens verkauften“. Ob er jetzt wohl gerade wie sie mit einer Tüte voll medialunas irgendwo saß und dem Treiben der Stadt zusah? Wusste er mehr als sie ahnte? Ahnte er mehr als sie wusste? War er gegangen, weil er ihre Müdigkeit nicht als Dornröschenschlaf, sondern als elendige Verweigerung verstand? Wie gerne hätte sie es ihm erklärt, wie gerne hätte sie sich mit ihm in seiner Geduld gebadet und das Aber, das manche ihrer Gesten und Augenaufschläge, bei ihm hervorriefen, im gemeinsamen Träumen ganz verbannt. Sie stellte sich ihn jetzt als hungrigen Wolf vor, der dem Kampf überdrüssig geworden ist, der sein eigenes Territorium nicht mehr erträgt und in der Steppe nicht sich selbst, sondern einen Einzelgänger findet, der er ist, der er sein muss, aber nicht sein will. So wie hungrige Wölfe, so war auch er vielleicht nur draußen auf Wanderschaft in fremden Gefilden gefährlich, ein Soziopath auf einem Kinderspielplatz, gehemmt und abtrünnig. Sie spann das Wolfssein noch weiter. Je dunkler es um sie wurde, je mehr Straßenlaternen und Lichter in ihrem allmählichen Angehen ihre Gedanken vor dem Erlöschen beschützten, desto mehr meinte sie, seinen Wolfsschritten und seinem Geheule in die Nacht hinein zu folgen. Sie fröstelte, denn sie hatte kein Wolfsfell, sondern nur die Möglichkeit zu dunkler Stunde an lichte Tage zu denken.
Er erwachte aus einem hektischen Schlaf, sein Bauch platt und knurrend auf dem Dickicht der Quilt-Quadrate. Er hatte gute Lust, in der Wohnung zu randalieren. Sie stank nach ihm und nach Stille. Kurze, wütende Gedanken sprangen funkenhaft zwischen linker und rechter Schläfe. Ja, er hatte das immer geliebt, wie sie mit ihren zierlichen Fingern auf ihren Schläfen getrommelt hatte  als ahmte sie das Gefühl von dicken leisen Regentropfen auf müder Haut nach, den Ellbogen dabei aufgestützt, den Blick aus einem Fenster, das gar nicht da war. Jetzt alles kurz und klein hauen, nach getaner Arbeit unter die Dusche springen. Anstelle dessen rief er Continental Pizza an, um sich eine Familienpizza zu bestellen und ließ sich eine Wanne voll Wasser ein, bis sie fast überlief, während er zwischen Küche und Wohnzimmer hin-und herlief, die Hände auf dem Rücken, die Augen im gesenkten Kopf fuhren über den aufblitzenden weißen Marmorboden. Er wusch jedes  seiner Körperteile ruckartig, aber präzise, und war angewidert bei dem Gedanken an Entspannung und den weichen lieben Wellen des tausend Mal gesiebten und gereinigten Badewassers, aufbereitet für die verschwitzten Stadtbewohner. Mit Handtuch um die Hüften und  zu allen Seiten abstehendem durchgerubbeltem Haar ging er an die Tür, um seine Pizza entgegenzunehmen und sie innerhalb von 5 Minuten schmatzend und übellaunig zu verschlingen. Er hatte immer an die Freiheit des einzelnen Menschen geglaubt, an ein unabhängiges Leben, in dem am Ende nichts mehr zählte als das Weiterleben mit sich selbst. Sie hatte ihm diesen Glauben genommen, ihn abhängig, angreifbar, schutzlos und nun sogar angriffslustig gemacht. Er war es leid. Warten konnte der, der auf ein Wunder hoffte, oder der daran glaubte, den status quo durch Dasitzen und Bewegen auf minimaler Fläche aufrecht erhalten zu können. Weder hoffte er noch wollte er das Jetztsein konservieren. Er entriegelte die Tür, schloss hinter sich ab und hüpfte die Treppen hinunter wie ein Schuljunge, dessen Ziel nicht die Schule, sondern der Park ist, in dem er sich zum Paffen einiger Zigaretten mit anderen Schuljungs treffen wird.
Im stockdunklen Treppenhaus hörte er das Zilpen junger Vögel. Er ging dem Schreien nach, neugierig und angezogen von einem plötzlichen Instinkt tiefen Mitleids. Direkt auf den Stromkasten neben dem Aufzug im Erdgeschoss hatte ein Vogel sein Nest gebaut und fasziniert sah er wie aus einem Häufchen Stroh kleine Schnäbel auf-und zuschnappten, um das Rot ihrer ungestopften Münder ihm und bald ihrer Mutter Preis zu geben. Während sie ihren Hunger verlautbarten, arbeitete unter ihnen ein Kasten, der ein ganzes Haus mit über 100 Menschen  darin mit Wasser, Licht und Wärme versorgte. Der Stromkasten war den Bewohnern, was die Vogelmutter den Vogeljungen war. Wenn man so wollte.
Bereits schon als er vor der schweren in Messing eingerahmten Tür stand, um auf die Straße zu treten, überkam ihn eine niederschmetternde Schwäche und der Mut hatte ihn verlassen, bevor er die Tür überhaupt aufgedrückt hatte.
Da stand sie. Mit Rücken zu ihm. Der Durchmesser/Breite einer kleinen Seitenstraße trennte sie. Auf der gegenüberliegenden Straßenseite, ein Sommerkleid, die Ellbogen schützend  unterhalb des Busens verschränkt. Er sah von hinten nur die kleinen Kanten der Ellbogen, die leicht hochgezogenen Schultern, der Haarknoten in ihrem Nacken, Waden, die in Fesseln übergingen und sich mit Füßen in Sandalen verbanden. Von vorne sah er den Typen vom Kiosk. Es war schon spät, er hatte das Gitter heruntergelassen, so sah er nur den kahlgeschorenen Schädel, das breite Grinsen, die sich aufgeregt bewegenden Lippen, die sich wahrscheinlich in Symbiose mit den ihren bewegten. Er hatte den Typen vom Kiosk noch nie leiden können. Immer überfreundlich, entspannt, summte manchmal zu den Pop-Liedern im Radio mit und hatte riesige blaue Augen, die einen verschluckten wie ein harmloses Bad  im Mittelmeer, auf das man zu weit hinausschwimmt bis Strand und Ufer auf einmal verschwunden sind.
Sie war sein Mädchen. Das Mädchen war seines. Er war für sie; zumindest gewesen. Sie war hier und fortgegangen waren sie beide, um wiederzukommen und nun war Jetzt in Echt-Zeit. Dreh dich um Liebchen, ich flehe dich an, dreh dich um und sehe mich im Schatten, hinter jener Tür, hinter dieser Tür, die da drüben von dir aus liegt und hier von mir aus.
Seine blauen Augen strahlten immer. Seit sie in der Calle Rivadavia wohnte, konnte sie sich nicht entsinnen, seinen Blick nicht erwidert zu haben, wenn sie das Haus verließ. Seine Hände, mit denen er Zigarettenpackungen, Kekse, Kondome oder Flachmänner in Hände von Arm und Reich legte, hatten etwas Unappetitliches: Sie hatten Schwielen, waren viel zu groß für sein Gesicht, sein Daumen, der beinahe die Größe eines haarigen Männerzehs hatte, passte nicht zu seinem relativ zierlichen Gesicht und seinem Alter, das sie so auf 30 schätzte. Sie sprachen über schwere Zeiten, von Rindfleischkrise, billigen chinesischen Supermärkten und dem Frühlingsanfang, der auch dieses Jahr wieder mit der Gewalt eines Wüstensandsturms seine fruchtbare Hitze über die Stadt ausbreitete und nicht nur die Straßenköter geil aufeinander werden ließ. Eigentlich gingen die Gespräche mit dem blauäugigen Kiosk-Typen nie über Small-Talk hinaus, der durchbrochen war von vorbeiknatternden Mopeds. Heute Abend war es anders. Die Straße war ungewöhnlich leer und sie konzentrierten sich aufeinander. „Ja. Schwere Zeiten. Letzten Sonntag hat sich mein Cousinchen das Leben genommen. Erst 16 ist sie gewesen und ihre Mutter hat sie gefunden. Hat sich im Auto in der Garage einfach die Pulsadern aufgeschnitten und das im Dunkeln.“ Wie konnte er ihr nur so etwas im Nebensatz erzählen und seine Augen dabei leuchten lassen, als wäre durch den Tod der Cousine jemand anderes dafür geboren worden? „Das Tut mir sehr leid für Sie. Manchmal denke ich, wenn man jung ist, ist man sich selbst die größte Gefahr. Kam ihr Tod denn sehr unerwartet?“ Irgendwie musste sie ja auf die Schockmeldung eingehen, Verständnis, Interesse zeigen. Irgendwas. „ So weit ich weiß, ich hatte nie viel Kontakt zu meiner Cousine, sie lebte in Salta, ist sie wohl von ihrer großen Liebe verlassen worden und hatte außerdem eine bipolare Störung, aber, dass sie sich umbringt… Man kann es nicht mehr ändern. Wie hässlich… Aber ich will Ihnen den Abend nicht so vermiesen. Wie kommt es, dass sie heute so alleine unterwegs sind? Sie haben doch einen Freund, oder? Er wohnt doch auch im selben Haus, nicht?“
Er handelte. Alles andere wäre fatal gewesen. Er drückte die Tür mit der Schulter auf, trat ins Freie. „Schatz. Kommst du?“ sagte er laut und es klang erstaunlich unbeschwert. Sie drehte sich um und ihre Reflexe schienen zu funktionieren. Sie lächelte ihn an und lief auf ihn zu. Er hielt die Tür mit dem rechten Arm auf und da schlüpfte sie ins Haus hinein, der Tüll ihres Kleides streifte seine nackten Beine und ein vorbeifahrender Lastwagen verdeckte die Sicht auf den Kiosk so lange, bis sie bereits die Steintreppen nach oben gehastet waren und immer tiefer liefen  sie ins Haus wie Bienen in ein Labyrinth von Waben, in dem sie sich bestens auskennen.
Sie betraten die Wohnung und begannen sich bereits am Eingang heftig zu lieben, ohne auch nur ein Kleidungsstück vollkommen auszuziehen. Sie blickten sich in der Lust an. Sie versuchten einander wahrzunehmen in einer dummen, aber natürlichen Cholerik wie zwei Neugeborene im Kreissaal, die aus lauter Verdutztheit über das Gesicht im Glaskasten daneben das richtungslose Schreien für einen Augenblick sein lassen, wie Kinder, die sich ihrer torkelnden Bewegungen nicht bewusst sind und frontal mit dem Knie der Mutter zusammenstoßen; Knochen anstelle eines Lächelns vorfinden.
Dann endeten sie im Bett, ausgestreckt lagen sie nebeneinander und wussten nicht, dass sie bereits eingeschlafen waren.

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