Westin

Wir laufen in den unterirdischen Teil des Hotels. Im Gänsemarsch. Immer der Dame mit der karierten Bluse und der schwarzen Plastikstretchhose folgen. Draußen erste Sommerhitze, auf die alle so lange gewartet haben. In den unterirdischen Gängen dominiert der Geruch nach altem Frittierfett. Uns begegnen ein paar ältere Frauen und ein junger Mann mit tiefen Augenringen. Ich schnappe osteuropäische Sprachfetzen auf. Sie nicken uns zu. Ihre Uniformen sehen aus wie die von Krankenpflegern, aber sie sind wohl nur Spüler in einer der Küchen. Ein paar von uns müssen Pipi und verschwinden nach rechts und links. Die Dame, die uns beibringen soll, wie man Teller trägt und für Buffets und Menüs deckt und wieder abräumt, trägt flache schwarze Sandalen mit schwarzen Seidenstrümpfen, unter denen sich ihre gelblichen Fußnägel hervorbohren. Bevor wir unser Ziel, ein Zimmer mit aufgestapelten Tellern und einem großen Tisch mit sieben Stühlen erreichen, grüßt uns in einer der Gänge eine Gruppe japanischer Köche, die vor einem winzigen Fernseher sitzen. Der eine hat noch Spinat zwischen den Zähnen hängen. Im Zimmer fängt die Gruppendynamik an, bevor es überhaupt losgeht. Ein Mädchen mit Doppel-D erzählt die Agentur behandle sie als Übermenschen, gleich am ersten Tag sei ihr ein Job im Westin angeboten worden, ganze zwei Jahr habe sie sich um die Gastroschulungen drücken können. Sie kommt aus Bayern und sagt zu einer, die in Halle Medizin studiert, sie kenne einen, der habe 13 Semester gewartet, bis sein NC gut genug war, um Medizin zu studieren. Die beiden Mädchen verstehen sich auf Anhieb und kichern, als seien sie beste Freundinnen. Als wir das Tellertragen üben, immer zwei laufen um den Tisch, die anderen bleiben sitzen, kriege ich schon den ersten Krampf in meinem Handgelenk. Die Dame ist nicht unfreundlich, aber irgendwann gibt sie es auf, mich zu verbessern und mir zu zeigen, wie ich die abgeräumten Gabeln mit dem Daumen festhalten muss, der auch gleichzeitig einen Teller mit Fleischresten aus tonnenschwerem Porzellan stützen muss. Die Bayrin schaut mich verächtlich an und sagt "Also ich mach das ja immer so." Meine Augen werden gleich schon wieder wässrig und ich muss daran denken, dass ich sowohl Demütigung hasse als auch das Fremdschämen, das kommt, wenn jemand vor mir gedemütigt wird, selbst wenn er oder sie es verdient hat.
Als ich das Westin verlasse, fahre ich mit meinem Fahrrad am Hauptbahnhof Leipzig vorbei. Ein paar Betrunkene sitzen wie immer am Eingang. Ich radle weiter und weiß, ich bin in dieser Stadt nie angekommen, obwohl ich sie verlassen und dann wiedergekehrt bin. An der letzten Kreuzung vor der Straße, in der ein rosanes Haus steht, in dem sich eine Wohnung befindet, die ein Zimmer hat, in der ein Stockbett steht, in dem ich in letzter Zeit immer wieder dasselbe träume, sehe ich zwei Männer in einem Abstand von gut 10 Metern ins Gebüsch pissen. Über ihnen ein Plakat mit einer Sprudelwerbung. Ein unattraktiver Mann ist darauf abgebildet, jung, aber mit Halbglatze und schütterem Haar, einem karierten Overall und komischen runden blauen Augen. Daneben steht: "Macht nicht schön, aber undurstig".
Vor meiner Wohnungstür muss ich den Schlüssel zweimal umdrehen. Das heißt, es ist niemand in der Wohnung. Ich fühle mich einsam und verschwitzt. Mein Jack Wolfskin-Rucksack riecht nach alter Angst und neuem Schweiß. Ich ziehe mich bis auf die Unterhose aus und  stelle mich vor den Spiegel. Mein Körper hat etwas Kantiges bis zur Brust, dann ist alles so rund und ausdefiniert. Während ich das feststelle, als habe ich es nicht schon hundertmal vorher festgestellt, ziehe ich mir schnell etwas über und rufe bei meinen Eltern an. Mein Vater geht dran und mein Vorwand ist, dass er mir ein Zeugnis einscannen soll, das ich nicht in Leipzig habe. Eigentlich will ich aber von meinem beschissenen Tag erzählen: Von den gelben Nägeln unter den schwarzen Seidenstrümpfen, von den wackelnden Tellern, den Betrunkenen am Bahnhof, von den pissenden Männern an der Kreuzung und meinem merkwürdigen Spiegelbild.
"Da braut sich was zusammen", sagt mein Vater, "das solltest du mal sehen."
"Magst du kein Gewitter?" frage ich.
"Doch, solange ich dann morgens wieder meine Sonne habe". Dann verabschieden wir uns. Das ist um 20 Uhr irgendwo in einem kleinen Dorf in Süddeutschland namens Erdmannhausen.
Viereinhalb Stunden später ist das Gewitter in Leipzig angekommen. Die Balkonmöbel fallen um, der Wind treibt leere Blätter von meinem Schreibtisch. Ich knipse das Licht aus und ich ziehe mich aus, bis auf die Unterhose. 

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