Nennen wir ihn Z.

Nur noch der Torso des umgestürzten Schneemanns ist übrig. Aber er hält sich wacker. Auf der dunklen Erde unter den roten Kinderschaukeln liegen nur noch verstreut die Schneeschollen.
Ein Lied erklingt im Radio, das "blanc sur blanc" heißt.
Ich muss an jemanden denken, den ich mal kannte. Ich kann mich nicht an seinen Namen erinnern, auch nicht daran, wie ich ihn damals kennengelernt habe. Ich hätte früher nicht für möglich gehalten, dass ich die Namen von und Zusammenhänge um gewisse Personen einmal vergessen würde. Gesichter aber vergesse ich nie und meistens bleibt auch noch der Klang der Stimme. Dieser, dessen Namen ich vergessen habe, lebte als Skulpteur in den Waagenhallen, einer Künstlergemeinde am Nordbahnhof in Stuttgart. Die Künstler dort lebten ein bisschen wie in Zirkuswagons. Alles hatten sie selbst gezimmert und geschmückt, alles war bunt und klapprig, aber ordentlich. Die Waagenhallen luden zu Festen, zu denen auch Partyhungrige aus dem Stuttgarter Zentrum strömten. Jeden ersten Samstag im Monat gab es eine unangekündigte Party in einem kellerähnlichen Gewölbe, auf die ich jedes Mal hinfieberte. Ich ging noch zur Schule, wohnte in der Provinz in einem kleinen Dorf und wenn ich mit Freunden am Wochenende nach Stuttgart ausging, langweilten mich die schlechte Musik und die Lackaffen der Theodor-Heuss-Straße. Einer meiner Freundinnen ging es ähnlich und sie konnte ich dazu bewegen, auch mal in die Waagenhallen zu gehen. Es muss an einem jener Abende gewesen sein, dass ich die Bekanntschaft mit, nennen wir ihn einmal Z. machte. Er kam aus Ungarn und sprach nicht viel. Er hatte einen blonden langen Zopf und trug Zimmermannshosen. Er hatte freundliche blaue Augen, er war sicher schon über dreißig und ich erinnere mich, dass er mir davon erzählte, wie er schon als Junge seinen betrunkenen Vater durch die vereisten Straßen von Budapest nach Hause bringen musste. Wir freundeten uns ein wenig an und meistens sah ich ihn durch Zufall bei den Festen in den Waagenhallen. Einmal hatten wir ein kurzes Gespräch vor einem Feuer, das in einer großen Blechtonne angezündet worden war, und hinter dem ein Feuerschlucker und Jongleuere sich in jener Sommernacht wie ewige Schatten drehten. Wir malten uns aus, Straßenclowns zu werden und dachten uns ein Programm aus, bei dem der eine Pantomime vorführte und der andere lustige Geschichten dazu erzählte.
Danach entfernten wir uns vom Feuer und tanzten in einem der Wagons zu elektronischer Musik. Es war das einzige Mal, dass ich mit Z tanzte. Ohne uns zu berühren tanzten wir in Einheit, als hätten wir diese Choreografie viele Male geübt. Ich weiß, dass irgendjemand neben uns uns Michael Jackson nannte. Z. und ich mussten lachen und ich glaube in diesem kurzen Moment hielten wir es beide für möglich, Straßenclowns zu werden.
Vielleicht werde ich mich irgendwann an seinen Namen nocheinmal erinnern. Ich denke, sein Name begann mit J, vielleicht hieß Z. Jószef. Oder Cornelius?
Die Sonne ist jetzt wieder hinter ein paar ausgefransten Wolken hervorgekommen. Der Torso des Schneemanns tropft. Vielleicht, so denke ich, ist er morgen endlich verschwunden.

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